Hadessohn
E. S. Schmidt
Leseprobe
Der Fünfzehnjährige in der Küchentür sah aus wie Tom, doch aus seinen Augen blickte Jenn ein Fremder an.
Ihr früher so schamhafter Bruder trug schwarze Boxershorts, sonst nichts. Auf der nackten Brust glänzte an einem Lederband die alte Münze, die er seit zwei oder drei Wochen ständig um den Hals trug. Brust und Arme waren definierter als früher, fester. Dass er ins Fitnessstudio ging, war neu, genauso wie die Protein-Drinks, die das Junk-Food ersetzt hatten. Das hätte ein gutes Zeichen sein sollen. Eigentlich.
Er war Tom, ihr kleiner Bruder, trotz der neuen Stimme und des beginnenden Bartwuchses. Und doch war etwas grundlegend anders.
Ihren Bruder Tom hatte sie nie gefürchtet.
Sie sah in ihren Kaffee und sagte möglichst beiläufig: »Hast du heute später Schule?«
Er stand weiter in der Küchentür und sie wusste, dass er sie ansah. Sie rührte in ihrem Kaffee herum. Schließlich setzte er sich in Bewegung, nahm im Vorbeigehen eine Tasse von der Spüle und goss sich Kaffee ein.
»Und du?« Zwei Worte, die wie eine Herausforderung klangen.
»Ich hab’ Spätschicht.« Jetzt sah sie doch auf und begeg-nete seinem kalten Blick. Auch dieser Blick war neu.
Sie umklammerte die Kaffeetasse, spürte deren Hitze wie einen Kraftschub. »Du bist gestern ziemlich spät nach Hause gekommen.«
Er lehnte lässig am Küchentresen und musterte sie abschätzig.
Sie blinzelte. »Ich hab’ Mom gesagt, dass du bei Carsten übernachtest. Ich lüg’ sie nicht gerne an.«
Er stieß sich ab und schickte sich an, die Küche zu verlassen. Als er an ihr vorbeiging, streckte sie die Hand nach ihm aus, ohne ihn zu berühren. »Tom, warte.«
Er drehte sich um, packte ihre Hand so fest, dass es weh tat. Er drückte zu, als wollte er ihr die Finger zerquetschen. Ein durchdringender Schmerz. Sie versuchte, sich seinem Griff zu entziehen, doch er hielt sie unerbittlich fest.
»Tom! Hör auf!«
Er trat näher, ohne ihre Hand loszulassen, beugte sich über sie, bis sie seinen Atem auf der Wange spürte. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen, fixierte die Kaffeemaschine, während der Schmerz ihren Unterarm lähmte.
»Das ist eine Warnung«, sagte er. »Lasst mich in Ruhe, du und deine Mutter. Hast du das verstanden?«
Der Schmerz erreichte den Ellbogen. Jenn nickte. Er verstärkte den Druck noch einmal, bis sie aufstöhnte, dann ließ er endlich los und ging.
Sie bewegte vorsichtig die Finger.
Was war in ihn gefahren? Und seit wann sagte er »deine Mutter«?
Während ihr Kaffee kalt wurde, rauschte die Dusche nebenan, dann rumorte er in seinem Zimmer. Schließlich kam er noch einmal zurück, spülte die Kaffeetasse aus und stellte sie aufs Abtropfgitter. Selbst seine neue Ordnungsliebe kam ihr bedrohlich vor. Zu pedantisch, zu glatt. Er war jetzt ganz in Schwarz gekleidet: schwarze Jeans, schwarzes Hemd. Die Lederjacke war neu. Sie sah echt aus. Woher hatte er das Geld?
Doch sie wagte nicht, ihn danach zu fragen. Erst, als die Haustür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete sie auf. Sie sah in den Flur hinaus, und ihr Blick blieb an den waagrechten, schwarzen Linien am Rahmen der Küchentür hängen. Sie selbst hatte sie gezeichnet und sein Alter daneben geschrieben. Vier Jahre, fünf Jahre, sechs Jahre. Immer an seinem Geburtstag. Die oberste Linie trug die Zahl vierzehn.
Sie stand auf und nahm die Tasse auf, um den kalten Kaffee in den Ausguss zu schütten, stockte aber. Am Schrank über der Spüle klebte die Liste. Drei Zeilen, in die sie alle eintrugen, an welchem Abend sie verfügbar waren, damit sie trotz Schichtdienst und Sport wenigstens einmal in der Woche zusammen aßen, hier, in der Küche, die ihnen das Wohnzimmer ersetzte. Redeten. Zeit miteinander verbrachten. Drei Zeilen: Mom, Jenn, Kuschelmonster.
Tommy Kuschelmonster. Bei den Fernsehabenden in Moms Doppelbett hatte er immer zwischen ihnen liegen müssen, untergehakt bei Mutter und Schwester. Als wolle er sichergehen, keine von ihnen zu verlieren. In der Hochphase von Jenns Pubertät hatten Tommys bittende Blicke dafür gesorgt, dass sie weiterhin ihre Kreuzchen gesetzt hatte. Heute waren es seine, die fehlten.
Letzte Woche hatte er Mom »Schlampe« genannt. Ein Wort wie ein Peitschenschlag. Nach Moms Ohrfeige hatte Jenn für einen Moment gedacht, er würde zurückschlagen, aber dann war er nur in seinem Zimmer verschwunden.
Sie stellte die Tasse wieder hin. Er war sicher nicht auf dem Weg zur Schule. Inzwischen war es ein Muster: Er ging am späten Vormittag und kehrte erst nach Mitternacht zurück. Zum Glück hatte Mom das durch ihren Schichtdienst im Krankenhaus bisher nicht mitbekommen – auch durch Jenns Lügen. Er selbst tat wenig, um sein Fehlverhalten zu verbergen. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, wo er sich herumtrieb – und mit wem. Seine alten Freunde zumindest waren es nicht. Carsten und Kadir hatte sie neulich im Markt getroffen, und die hatten selbst gefragt, warum er nicht mehr zur Schule kam. Jenn hatte ohne Moms Wissen eine Entschuldigung hingeschickt.
Sie ließ den Kaffee stehen. Der Küche gegenüber lagen die »Kinderzimmer«, rechts ihres, links das von Tom. Er hatte ihr und Mom schon vor zwei Jahren strengstens untersagt, seine heiligen Hallen ohne Erlaubnis zu betreten. Die Allüren eines Teenagers, über die sie gelächelt hatten. Aussperren konnte er sie nicht – in dieser Wohnung direkt unter dem Dach eines verwohnten Altbaus hatte es noch nie Schlüssel für die Zimmertüren gegeben.
Sie legte die Hand gegen das mit rissiger Ölfarbe bedeckte Holz – und zögerte. Vertrauen war immer die Basis dieser Familie gewesen; sie wollte Tom nicht hintergehen.
Tom, ihr kleiner Bruder, dem sie die Flasche gegeben hatte, als sie gerade mal vier gewesen war. Den sie als Siebenjährige an der Hand mit zum Kiosk genommen hatte, um das erste Cornetto-Eis ganz für ihn alleine zu kaufen. Der mit seinem aufgeschürften Knie weinend zu ihr gelaufen war – zu ihr, nicht zu Mom.
Seit Dads Tod hatte sie sich um ihren kleinen Bruder gekümmert. Sie würde jetzt nicht damit aufhören.
Die Tür schwang knarrend auf. Dahinter lag … penible Ordnung. Das Bett war gemacht. Er hatte sogar gelüftet, nur ein Hauch von Duschgel hing in der Luft. Nichts lag herum, keine Klamottenhaufen, keine Papierstapel oder Schulsachen. Selbst die Regale waren nahezu leer. Keine Spur von dem Chaos, das Jenn erwartet hatte. Erhofft hatte.
Er hatte alle seine Sporttrophäen und Andenken weggeräumt, die Poster von den Wänden genommen, sogar die Collage mit den Fotos von ihm, Carsten und Kadir.
Keine Postkarten und Zeichnungen zierten mehr den Schrank, nur die Spuren der Klebebänder waren zurückgeblieben. Sie zog die Schranktüren auf.
Saubere Stapel schwarzer Shirts und Hosen. Sie schienen alle gleich zu sein, als hätte er sich auf einen Schlag fünf Hosen und zehn T-Shirts gekauft. Keine andere Kleidung.
Ganz unten stand eine schwarze Kiste, doppelt so groß wie ein Schuhkarton. Irgendetwas hatte er anscheinend doch aufgehoben.
Sie kniete sich hin und zog den Karton nach vorne. Er war erstaunlich schwer. Dann zögerte sie.
Sein Zimmer, das war eine Sache, aber der Schrank, und nun der Karton. In seinen Sachen herumzuwühlen war schäbig. Wenn Tom oder Mom die Kisten in ihrem Schrank durchwühlten, Jenn würde in die Luft gehen.
Aber war das überhaupt noch Tom?
Zögernd legte sie die Hände an den Deckel. Was immer er hier aufbewahrte, es würde ein Teil ihres Bruders sein, der Kern, den er selbst bewahren wollte, ein Klecks farbiger Hoffnung, an den sie anknüpfen konnte, der ihr einen Weg zurück zu seinem alten Ich weisen würde. Verdammt, nun war sie schon so weit gegangen, da war der nächste Schritt nur ein kleiner.
Mit einem Ruck hob sie den Deckel.
Zwei Pistolen. Und es war noch deutlich Platz für eine Dritte.
Das mussten Spielzeugwaffen sein, für Platzpatronen. Doch als sie eine aus der Kiste hob, war sie schwer wie ein Backstein. Das war kein Kinderspielzeug.
Von einem Ekel ergriffen, ließ sie die Waffe zurück in die Kiste fallen, schob sie zurück und schloss den Schrank.
Pistolen. Woher um alles in der Welt hatte er Pistolen? Und wozu? Er war nie ein Waffenfan gewesen, seine Computerspiele waren Minecraft und FIFA, keine Egoshooter. Vielleicht bewahrte er die Pistolen für jemanden auf. Aber eine fehlte. Wenn er die eben mitgenommen hatte, jemandem brachte …
Amoklauf. Das Wort vibrierte plötzlich in ihrem Kopf. Nein. Das wollte sie sich nicht vorstellen. Er hatte Freunde, gute Noten, »okay« Lehrer. Tom war kein Schulschütze. Er war ihr Bruder, verdammt!
Ihr erster Impuls war, hinter ihm her zu laufen und ihn zur Rede zu stellen, aber dazu war es zu spät. Sie brauchte einen Hinweis, wohin er jeden Tag ging. Irgendwo in diesem leergefegten Zimmer ohne jede persönliche Note musste es einen Hinweis geben.
Sie durchsuchte die Jeanshosen, die Taschen der einzigen Jacke, die sie fand, den Papierkorb, den Nachttisch. In der Spalte zwischen Kommode und Bett: Ein Streichholzbriefchen mit der Aufschrift Florenz. Adresse: Moselstraße. Das war beim Bahnhof, im Rotlichtviertel.
Ein Schlüsselbund schepperte vor der Eingangstür, und Jenn schreckte hoch. Wenige Anhängsel, heller im Klang – Moms Schlüsselbund. Aber sie wollte nicht erklären müssen, was sie in Toms Zimmer machte. Und Mom sollte nicht sehen, wie kahl es inzwischen war.
Schnell verließ sie das Zimmer, schloss die Tür und huschte ins gegenüberliegende Bad.
»Jenn?«, rief ihre Mutter im Flur.
»Komme gleich!« Sie setzte sich auf den Klodeckel und drehte das Briefchen in den Händen.
Einen Schnaps im Puff trinken, vielleicht ging das unter Jungs als Mutprobe durch. Carsten könnte es wissen – aber im Moment war der noch in der Schule.
Vielleicht sollte sie im Florenz einfach mal vorbeischauen. Vielleicht war das ja der Ort, zu dem es ihn hintrieb. Ganz abwegig war das nicht. Echte Pistolen bekam man im Bahnhofsviertel vermutlich eher als an anderen Orten der Stadt.
Pistolen! Das war einfach absurd. Tom und Pistolen!
Außerdem: dafür brauchte man irgendeine Art von Erlaubnis, einen Waffenschein oder so. Fünfzehnjährige bekamen so etwas bestimmt nicht – und wo konnte ein Fünfzehnjähriger illegal Waffen kaufen? Und überhaupt – er hatte gar kein Geld für sowas. Und keinen Grund.
Dumpfe Geräusche von nebenan aus der Küche. Vielleicht sollte sie Mom die Pistolen zeigen. Es wäre so erleichternd, wenn sie dieses Wissen nicht alleine tragen müsste. Aber das war unmöglich. Plötzlich lag da wieder dieses schale Gefühl von damals in ihrem Magen, als hätte es irgendwo in ihrem Körper auf seine Gelegenheit zur Rückkehr gelauert.
Der seifige Geruch des alten Linoleumbodens. Vier Stockbetten, acht Kinder in einem Zimmer. Die Mitarbeiter hatten es erlaubt, dass Tommy auch dort schlief, obwohl es eigentlich ein Mädchenzimmer war. Jede Nacht war er zu ihr ins Bett gekrochen, hatte sich an ihrem Bauch zusammengerollt und den Daumen in den Mund gesteckt. Der Duft von Kindershampoo und Nivea Creme war ihr in die Nase gestiegen.
»Mommy kommt wieder«, hatte sie geflüstert. »Mommy kommt und holt uns nach Hause.«
»Und Dadda?«
Da hatte sie nur stumm über seinen Kopf gestreichelt. Die Tränen waren ihr über die Wangen gelaufen und in sein dünnes Kinderhaar getropft.
Drei Monate Heim, bis Mom aus der Nervenklinik zurückgekommen war. Drei Monate, in denen die Familie nur aus Tom und ihr bestanden hatte. Jenn war es vorgekommen wie Jahre.
Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Familie, dass ihre Mom noch einmal eine solche Dunkelheit durchmachte. Sie kannte Tom, und sie würde ihn zurückholen, bevor Mom überhaupt merkte, dass etwas nicht in Ordnung war.
Sie schob die Streichhölzer in ihre Gesäßtasche. Jetzt war Vormittag, und das Bahnhofsviertel vermutlich ein harmloser Ort.
Sie zog die Spülung und verließ das Bad.
Mom saß in der Küche. Sie sah müde aus, wie immer nach dem Nachtdienst. Jenn stand einen Moment in der Küchentür und betrachtete ihre Mutter, die den Kopf in die Hände gestützt hatte und einfach nur dasaß, als benötige sie im Moment nichts weiter als ein bisschen Ruhe. Vor ein paar Jahren war Mom in die Notaufnahme gewechselt – höherer Verdienst, aber ganz schön anstrengend.
Jenn ging zur Spüle, auf der noch immer ihre volle Tasse stand. Betont fröhlich fragt sie: »Wie war’s heute Nacht?«
Mom hob den Kopf und ließ die Hände sinken. »Ganz OK. Zwei Autounfälle und ein paar Infarkte. Seitdem es nicht mehr ganz so heiß ist, hat die Hektik nachgelassen.«
Jenn kippte die Tasse in den Ausguss. »Magst du den Rest Kaffee?«
»Später vielleicht. Jetzt leg ich mich lieber ein paar Stunden hin.« Mom gähnte. »Achmed hat ’ne WhatsApp geschickt. Er hat wieder ein paar Sachen über dem Ablaufdatum übrig.«
Bei Achmeds kleinem Laden lohnte sich das Spenden an die Tafeln nicht, und so profitierte die Nachbarschaft. Normalerweise hätte Jenn angeboten, die Lebensmittel abzuholen, aber sie brannte darauf, zu sehen, was es mit dem Florenz auf sich hatte.
»Ich fahre in die Stadt und schaue nach Turnschuhen.« Sie stellte die Tasse auf die Abtropffläche neben die von Tom und wandte sich um. »Wahrscheinlich fahre ich von dort dann direkt zur Arbeit.«
Sie ging in den Flur und Mom stand erst auf, als sie an ihr vorbei war, sonst hätten sie sich gegenseitig im Weg gestanden. Jenn nahm die Jeansjacke und ließ Handy und Schlüsselbund in die Tasche gleiten.
»Jenn?« Mom lehnte mit einem warmen Lächeln am Rahmen der Küchentür. »Schau nicht auf den Preis, hörst du? Du verdienst dein eigenes Geld, also wenn dir welche gefallen, dann kauf sie dir.«
»Wenn sie dreihundert Euro kosten, gefallen sie mir nicht. Außerdem wissen wir noch nicht, was Toms Abschlussfahrt kosten wird.«
»Ach, bis dahin ist es fast noch ein Jahr.«
Jenn schlüpfte in die alten Treter, die sie dazu nicht einmal mehr aufschnüren musste. Wenn es regnete, drückte das Wasser durch die gebrochenen Sohlen – aber inzwischen regnete es ja kaum noch. Bis zum Winter hielten die noch durch.
»Hast du nochmal drüber nachgedacht?«, fragte Mom.
»Worüber?« Jenn richtete sich auf.
»Das Abitur nachzumachen, wenn Tom aus der Schule ist. Oder wenigstens eine Ausbildung anzufangen.«
Jenn nahm ihre Jeansjacke vom Haken. »Du hast doch eben selbst gesagt: Das ist noch ein Jahr hin.«
»Eben. Du müsstest dich langsam bewerben.«
Der Job im Markt hatte geholfen. Nach der Klinik hatte es immer noch Tage gegeben, an denen Mom es nicht einmal aus dem Bett geschafft hatte. Das war zum Glück vorbei, und die Schulden aus der Zeit waren inzwischen auch abbezahlt, aber große Sprünge konnten sie immer noch nicht machen.
Mom trat plötzlich auf sie zu, und für einen Moment dachte Jenn, sie wolle sie in den Arm nehmen. Doch Mom strich ihr nur eine widerspenstige Strähne hinter das Ohr und streichelte ihr dann über die Schulter.
»Du bist nicht die Mutter in dieser Familie, weißt du? Das bin ich. Du musst die Last dieser Familie nicht alleine tragen. Ich bin für dich da.«
In diesem Moment hätte Jenn beinahe etwas gesagt. Über Tom. Über das, was heute Morgen passiert war. Über seinen schmerzhaften Griff und das, was sie gefunden hatte. Etwas in ihr schrie danach, sich ihrer Mutter anzuvertrauen.
Doch das konnte sie Mom nicht zumuten. Sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte nur: »Ich weiß, Mom.« Sie gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verließ die Wohnung.
Aus seinem geparkten Wagen heraus beobachtete Aristos, wie der Mann das Bierfass von der Laderampe des Lasters hievte, der mitten im Rotlichtviertel den Verkehr behinderte. Mit einem gedämpften »Klonk« landete es auf dem Kissen auf dem Bürgersteig.
Aristos hob das Fernglas und bekam einen guten Blick auf die Augen des Mannes. Sie waren gelb. Treffer. In diesem Körper steckte einer der Toten.
Natürlich war die Iris des Mannes nicht wirklich gelb. Wenn jemand von der Seele eines Toten besessen wurde, behielt er seine ganz normale Augenfarbe – für andere Menschen. Nur Aristos sah es, und es half ihm, seine Beute unzweifelhaft zu identifizieren.
Vermutlich war das da Baptiste. Er war der letzte gewesen, für den sie einen neuen Körper gesucht hatten, und dieser hier sah aus wie ein Junkie, der den Entzug noch nicht lange hinter sich hatte. Schon früher hatte Baptiste sich Junkies ausgesucht, und nach Übernahme von deren Körper den kalten Entzug eisenhart durchgezogen. Er hatte seine Fehler, aber Drogen gehörten nicht dazu. So gesehen konnte der ursprüngliche Bewohner dieses Körpers froh sein, an Baptiste geraten zu sein. Klar, er war nicht mehr Herr im eigenen Haus, aber das war er vorher auch nicht gewesen. Jetzt wurde er eben von Baptiste beherrscht, statt vom Dope.
Vielleicht begrüßte der ein oder andere Wirt so eine Übernahme sogar. Sich zurücklehnen und dabei zusehen, wie jemand anderes das Leben auf die Reihe bekam, das man selbst in die Gosse gefahren hatte. Als Krimineller, aber immerhin.
Baptiste rollte das Bierfass in das Lokal. Über dem Schriftzug Florenz erhoben sich mehrere Fensterreihen mit rot leuchtenden Neonherzen. Aristos ließ den Blick über die Straße schweifen. Ein magerer Junkie, der offenbar kein Geld für Essen übrig hatte, stützte sich an den heruntergelassenen Läden des »Crown« ab, bevor er weitertaumelte. Die meisten Läden waren noch zu, aber das Wettbüro war offen, und auch der Elektroladen mit den Gittern vor dem Fenster. Zwischen zwei Autos hockte jemand am Boden und kackte in den Rinnstein, ein Stück weiter schloss eine junge Frau ihr Fahrrad an einer Laterne ab. Direkt vor dem Erotikshop. Wer zur Hölle nannte so einen Laden eigentlich »Dr. Müller«?
Baptiste kam gerade wieder raus. Noch war er allein, aber die anderen müssten bald auftauchen. Er lud das zweite Fass ab, doch er kam nicht dazu, es reinzurollen. Die junge Frau mit dem Fahrrad sprach ihn an. Sie war schlank, um die zwanzig. Eigentlich sah sie ganz bürgerlich aus in Jeans und Jacke und mit einem langen, kastanienbraunen Pferdeschwanz. Schade um sie, aber eine Frau, die morgens um elf in einem Bordell vorsprach, konnte eigentlich nur einen Grund dafür haben.
Es war nicht zu hören, was die beiden miteinander redeten. Sie zeigte ihm irgendwas auf ihrem Handy, er wiegte den Kopf, gestikulierte unbestimmt herum.
Ganz schwach hatte Aristos mit einem Mal den Geruch nach Rost und Eisen in der Nase. Er hatte ein paar Jahrzehnte gebraucht, um zu verstehen, wann sich diese besondere Sinneswahrnehmung einstellte, nämlich immer dann, wenn einer der Toten Freude dabei empfand, einem anderen Wesen zu schaden. Der Gestank des Bösen.
Der Geruch war ganz schwach, kam wohl bloß von den Vorstellungen, die Baptiste in diesem Moment durch den Kopf gingen. So, wie Aristos ihn kannte, waren es Bilder von Sex und Gewalt. Aber wenn die Kleine freiwillig anschaffen wollte, war sie relativ sicher vor ihm. Ricos Regeln. Für die Geldwäsche und das Image brauchten sie auch ein paar legale Mädchen, die angemeldet waren. Baptistes besondere Vorlieben mussten andere Frauen erfüllen. Illegale, in privaten Wohnungen, wo die eigentlichen Profite gemacht wurden.
Baptiste zeigte die Straße entlang, und Aristos folgte der Geste mit dem Blick. Da kamen die anderen: ein Pulk gelbäugiger Halbstarker, die statt des Bürgersteigs lieber die Fahrbahn entlang gingen. Der Autofahrer hinter ihnen wagte es nicht, zu hupen.
Rico war leicht zu identifizieren – an der Art, wie die anderen um ihn herumscharwenzelten. Wieder hatte er sich einen hübschen Jungen ausgesucht, vielleicht fünfzehn oder sechzehn. Süchtige und Junge waren am leichtesten zu übernehmen, und Rico würde sich nie mit dem Körper eines Junkies abgeben. Er hatte seine Standards.
Zwei, vier, sechs, sieben – mit Baptiste acht. Alle da. In Marseille, waren sie noch zu zehnt gewesen. Immerhin zwei hatte Aristos das letzte Mal erledigen können, dann hatte Rico sein Geschäft verkauft und war mit seiner Truppe untergetaucht. Bei ihm hieß das: die alten Wirte töten und neue übernehmen. Nach dem dritten Komplettwechsel hatte Aristos ihre Spur verloren.
Fast neun Monate hatte er gebraucht, um sie wieder aufzuspüren. Jetzt gehörte ihnen das Florenz. Juri hatte einfach den Besitzer übernommen: keine Kosten, kein Papierkram. Aber sie hatten den Fehler gemacht, auf Juris alte Verbindungen in Osteuropa zurückzugreifen. So hatte Aristos sie wiedergefunden.
Sie scharten sich jetzt um Baptiste und die Kleine. Schwer zu erkennen, was da gerade passierte. Aristos beugte sich vor, öffnete das getönte Fenster einen Spalt, aber beides half nicht viel. Aussteigen ging nicht, sie würden ihn erkennen. Anders als die Toten, konnte er sich nicht einfach ein anderes Gesicht zulegen. Das Auto immerhin war neu – naja, neu in dem Sinne, dass die Toten es noch nicht kannten.
Das Gespräch vor dem Florenz wurde lauter, aber Aristos verstand nur Satzfetzen und einzelne Worte. Irgendwas mit einer Pistole. Rico zeigte schließlich zur Tür, und als die Kleine den Kopf schüttelte, packte Baptiste sie einfach am Arm und stieß sie nach drinnen. Die anderen folgten, die Tür schloss sich. Das zweite Bierfass blieb einsam auf dem Bordstein zurück.
Aristos starrte auf die geschlossene Tür. Die Kleine war laut geworden. Das war für eine Frau in dieser Branche nicht gesund – schon gar nicht Rico gegenüber. Aber die Kleine ging ihn nichts an. Die Lebenden waren nicht seine Aufgabe, nicht mal die Wirte. Seine Aufgabe waren die Toten.
Aristos lehnte sich zurück. Es wurde Zeit, dass er einen Plan entwickelte. Seine Idee in Marseille, wie ein Wolf zuerst die Schwächeren aus der Herde auszusondern und anzugehen, hatte ja nur so mittelprächtig funktioniert. Rico waren seine Leute nicht egal, er kämpfte um jeden einzelnen von ihnen. Darum waren sie ihm bedingungslos ergeben. Das war seine Stärke.
Wenn er umgekehrt Rico zuerst ausschaltete, wäre der Rest eine leichtere Beute. Aber an Rico ranzukommen war noch schwieriger. Nicht mit all den Getreuen um ihn herum, die für ihn durch die Hölle gehen würden.
Noch immer hatte Aristos den metallischen Geruch in der Nase, er war sogar stärker geworden. Baptiste war eindeutig geil. Immer noch.
Seltsam. Eigentlich überließ Rico es niemals Baptiste, die Bewerbungsgespräche mit den legalen Mädchen zu führen, das war eher Nells Sache. Was ging da drinnen vor sich?
Die Kleine hatte bieder ausgesehen, aber falls sie ohne Rückhalt war – ohne Familie und Freunde, vielleicht illegal in Deutschland –, wenn also niemand sie vermissen würde, war es für Rico lukrativer, sie in den Wohnungen arbeiten zu lassen. Die Gewinnspanne war höher, denn die Frauen bekamen von dem, was sie erwirtschafteten, keinen Cent. Sie für diese Sklavenarbeit zu brechen – »einzureiten«, wie Rico es nannte – dafür war Baptiste zuständig. Wirklich schade um die Kleine.
Obwohl … vielleicht ergab sich genau daraus eine Gelegenheit, Baptiste vom Spielbrett zu nehmen. Aristos legte die Hand auf den Türöffner. Pläne schmieden war echt nicht sein Ding, er würde einfach jede Chance nutzen, die sich ihm bot. Und das hier war vielleicht eine.